Die Krankheit, die mich heilte: GNE-Myopathie

Die Libelle als Symbol für Transformation. 
Ein Insekt, das die Unterwasserwelt verlässt und – genau wie ich – ihre Beine gegen Flügel tauscht.

🕒 Lesezeit: ca. 10 Minuten

Im Juni 2020 erhielt ich eine Diagnose, die mein Leben auf den Kopf stellte: GNE-Myopathie – eine seltene genetische Gen-Mutation, die nach und nach meine Muskelkraft schwinden lässt. Was zunächst wie ein harter Bruch in meinem Leben wirkte, wurde rückblickend zum Ausgangspunkt einer tiefen, inneren Reise.

In diesem Artikel nehme ich euch mit in den Moment, als ich meine Diagnose erhielt – wie ich die Angst, das lebenswerte Leben zu verlieren, unterdrückte – und an den Punkt, an dem ich erkannte, dass das lebenswerte Leben mit der Diagnose erst begann. Denn so paradox es klingt:

Es ist die Krankheit, die mich heilte.

Die Vorahnung — am 10.06.2020

Ich sitze in einem hellen, sauberen, recht schön eingerichteten Behandlungsraum meines Neurologen Dr. B – ehemaliger Arzt der Charité Berlin. Weil ich bereits ahnte, dass etwas nicht stimmt, bat ich meinen Freund Tillmann, mich zu begleiten. Es war anders als bei den unzähligen vorherigen Arztbesuchen in den vergangenen vier Jahren.

Die Ärzt:innen zuvor hatten mich, wenn ich mich mit meinen „schlappen Füßen“ vorstellte, meist ahnungslos und mit einem Schulterzucken angesehen. Ich wurde vom Bandscheibenvorfall bis hin zum B12-Mangel fehldiagnostiziert. Ich war es gewohnt, dass niemand wusste, woher es kam.

Doch Dr. B wirkte kompetent. Er hatte mich einmal zuvor gesehen und mir in seiner leicht autistischen Art sehr klar erklären können, was er vermutete – und dass eine Genuntersuchung dies aufklären würde.

Und da waren wir nun.

So saß Tillmann links und ich rechts, Dr. B saß uns gegenüber. Die Begrüßung war nett, aber auch etwas unpersönlich, denn es war gerade der Beginn der COVID-Pandemie, und wir trugen bereits alle Masken und hielten Abstand.

Die Stimmung im Raum fühlte sich freundlich und locker an. Dr. B öffnete ein Dokument auf seinem Computer – es muss meine digitale Patientenakte gewesen sein. Nach ein paar schnellen Klicks sagte er: „Ach ja! Sie sind ja hier, um den genetischen Befund zu erhalten. Den habe ich hier.“

Er begann er zu lesen. Nach einigen Sekunden bemerkte ich, wie sich seine Energie veränderte. Sein Körper und Gesichtsausdruck sackten leicht zusammen.

Dann sagte er: „Ja, Frau Krause – ich hatte richtig vermutet. Sie haben eine Myopathie.“

Er las den Teil mit der Prozentzahl vor. Es klang wie ein Vaterschaftstest: „Ja, Sie sind zu 99,9 % der Vater.“ Nur war es irgendwie anders.

Tillmann startete dann eine — für ihn sehr typische — Diskussion mit Dr. B über die 0,01 % Wahrscheinlichkeit, dass ich diese genetische Mutation möglicherweise doch nicht habe.

Das Schauspiel der Kontrolle

Ich schaltete dabei ab. Die Welt brach über mir zusammen. Solche Szenen kennt man doch nur aus Filmen. Wer hätte gedacht, dass so etwas einmal für mich real wird?

Als Dr. B und Tillmann mit diskutieren fertig waren, wandte sich Dr. B mit ein paar weiteren Erklärungen an mich. Meine Fassade blieb erhalten.

Obwohl mein Inneres vor Panik schrie, saß ich da und nickte freundlich. Ja, ich lachte sogar ab und zu über seine “aufheiternden” Kommentare. Wenn man uns durch eine Glasscheibe beobachtete hätte, würde man vermutet die haben gerade einen netten Small-Talk.

Mit jedem freundlichen Nicken schnürte es sich in meinem Hals immer mehr zu. Die Tränen schossen mir ins Gesicht — es fühlte sich an wie Benzin in meinen Nasennebenhöhlen. Und jedes weitere freundliche Fake-Nicken und Lächeln drückte diese Gefühle noch weiter weg von mir.

Es fühlte sich an wie eine Sprudelflasche, die geschüttelt, leicht geöffnet wurde und nun schnell wieder zugedreht wird — damit ja nichts daneben geht. Immer fester und fester zugedreht.

Dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Ganze explodiert, war mir in dem Moment nicht klar. Ich nickte fröhlich wie ein Wackel-Dackel weiter und schloss die Sprudelflasche — vermeintlich für immer.

Der letzte Satz von Dr. B war: „Sie sind ja Psychologin, Sie wissen sicher, dass Angst eine schlechte Beraterin ist!“

Das gab mir den Rest.

Ich warf die Sprudelflasche sprichwörtlich aus dem Fenster. Ich lachte laut los und ließ irgendeinen coolen Spruch ab, an den ich mich jetzt nicht mehr erinnern kann.

Aber damit war es getan. Ich entschied mich, mir nichts anmerken zu lassen, und wollte damit Stärke zeigen.

Was Stärke für mich heute bedeutet, ist eine andere Geschichte. Damals bedeutete es für mich, meine Trauer und Angst nicht zu zeigen.

Gleichzeitig hatte Dr. B natürlich recht – & das sehe ich heute immer noch so. Wenn man sich nur von der Angst beraten lässt, wird man kein erfülltes Leben leben und sich immer nach dem “was wäre wenn sehnen”.

Kontrolle ist eine Überlebensstrategie – doch die Heilung entsteht durch Vertrauen

Was ich heute — rückblickend — dazugelernt habe, ist, dass ohne Angst kein Mut, und ohne Mut kein Vertrauen. Also muss Angst ihren Platz einnehmen dürfen und sich voll und ganz zeigen.

Das ist genauso wahr. Genauso wahr, wie die Aussage von Dr. B, dass die Angst eine schlechte Beraterin sei.

Tillmann und ich verließen die Praxis stumm. Im Fahrstuhl waren überall Spiegel um mich herum. Ich erinnere mich daran, dass ich im Fahrstuhl mir selbst im Spiegel in die Augen sah, und da kam es direkt wieder hoch – das Sprudelwasser.

Das Sprudelwasser, das gerne heraussprudeln möchte. Und ich drehte die Flasche wieder zu. Schaute weg und konzentrierte mich darauf — bloß nicht die Fassung zu verlieren.

Tillmann begann mit mir zu reden, ich weiß nicht mehr, worüber. Ich war damit beschäftigt zu „wirken“. Zu wirken wie eine starke junge Frau, die eine lebensverändernde Diagnose erhält und der das absolut nichts ausmacht.

Wie absurd.

Das macht heute absolut keinen Sinn mehr für mich, aber damals sah ich keine andere Möglichkeit. Ich wusste in dem Moment nicht mal, was ich da tue. Alles verlief so automatisch und unbewusst – ein Muster, das seit Jahren genauso von mir gelebt wurde.

Nur dieses Mal sollte es anders kommen. Dieses Mal war die Herausforderung so heftig, dass ich endlich verstehen sollte, dass ich aufhören sollte zu „wirken“ und lernen sollte, zu sein.

Endlich draußen angekommen fing die frische Luft fing mich auf. Ich spürte den Wind in meinem Gesicht – und atmete tief durch. Ich kann mich heute noch sehr gut an diesen Moment erinnern.

Und damit begann die bisher herausforderndste Reise meines Lebens: die Begegnung mit mir selbst.

Zwischen Diagnose & Heilung: Worte an mein früheres Ich

Vier Jahre später, am 17.04.2024 schrieb ich diesen Text und reflektierte über den Kampf der letzten 4 Jahre. Den Kampf meine Stärke, Schöhnheit und Anerkennung nicht zu verlieren.

Meine Erkenntnisse habe ich festgehalten und zwar in dem folgenden Brief — gerichtet an mein 29-jähriges Ich — das am 10. Juni 2020 die Diagnose: GNE-Myopathie erhielt.

Liebste Lisa,

Ich würde dir gerne etwas mit auf den Weg geben. Nein, viel mehr möchte ich dir etwas abnehmen.

Ich möchte dir die Angst nehmen, dich zu zeigen. Gerade hast du erfahren, dass du eine degenerative Muskelerkrankung hast – du hast die Diagnose GNE-Myopathie erhalten.

Fürchte dich nicht, denn in ein paar Jahren wirst du es nicht mehr als Krankheit verstehen, sondern als Beginn deiner Heilung.

Die nächsten vier Jahre werden dich langsamer und achtsamer machen. Du wirst bewusster atmen, fühlen, riechen und sehen. Vor allem wirst du dir selbst bewusster begegnen.

Du wirst dich mit dem Konzept der Bewegung auseinandersetzen, du wirst lernen, sie für selbstverständlich gehalten zu haben – und durch den Verlust wirst du erkennen, wie sehr du die Bewegung liebst.

Diese Weisheit wirst du in Form von Liebe erfahren. Tief in deinem Inneren wirst du sie erleben und fühlen – und sie nie mehr vergessen. Dieses Wissen geht in all deine Handlungen mit ein.

Es wird dich halten und begleiten. Du verlierst einen Teil deines Körpers – doch du erhältst dich selbst zurück. Dieser schmerzhafte Prozess ist Bedingung für diese Befreiung.

Es ist ein Heimkommen. Und du wirst in ein paar Jahren sogar dankbar dafür sein. Du wirst den schmerzlichen Verlust annehmen und in eine kraftvolle Liebe umwandeln, die dein ganzes Wesen erfüllt.

Darüber hinaus wirst du erkennen, dass das nicht der letzte schmerzliche Prozess ist. Es werden noch viele weitere kommen.

Doch du weißt: Nachdem der Schmerz gefühlt wurde, wirst du ein Stück von dir selbst zurückerhalten. Du wirst immer wieder sterben, um zu leben.

Es wird nicht einfacher, nicht bequemer, nicht weniger angsteinflößend. Doch du wirst von Mal zu Mal deine Angst in Mut umwandeln – und je öfter du das tust, desto mehr Vertrauen wirst du haben.

Du wirst verstehen, was Vertrauen bedeutet, und du wirst eines Tages bemerken, dass dieses Vertrauen, das sich kultiviert, sich wie ein stabiler, großväterlicher Berg in deinem Sein anfühlt.

Den Sturm wird es immer geben. Doch du bist jetzt nicht mehr auf die Standfestigkeit deiner Beine angewiesen. Du hast die Kraft in deinem Inneren gefunden.

Bis dahin, Lisa – verstecke deine Tränen nicht. Schreie vor Schmerz und Angst über den Verlust deiner Bewegungsfähigkeit. Erlaube dir, diese wahren Gefühle in dir zuzulassen – denn sie sind deine Farben und deine Klänge.

Vertraue mir: Sie werden irgendwann zu Musik, zu einem Tanz, der immer leichter wird zu tanzen. Sei wütend auf all die Menschen, die dir scheinbar nicht die Möglichkeit geben zu weinen, zu leiden, hoffnungslos zu sein.

Die nicht für dich da sind, wie du es dir wünschst. Denn in dieser Wut wird dir die Trauer begegnen – dein wahrer Schmerz.

Der Schmerz deiner Selbstverleugnung. Du bist wütend auf deine Familie, weil sie dich (unbewusst und unabsichtlich) dazu brachten, dich selbst zu leugnen, um von ihnen geliebt zu werden.

Nun, in Zeiten der Hilflosigkeit, der Einsamkeit, der dunkelsten Stelle deines Selbst, ist die Sehnsucht nach der Liebe zu dir selbst so groß, dass du beginnst zu erkennen, dass du dich selbst verleugnet hast.

Diese Erkenntnis wird dich zunächst von einigen Menschen trennen, denn du wirst verstehen wollen, warum und wie es passieren konnte, dass du dich dir selbst so fern fühlst.

Und du wirst es verstehen – denn du bist unglaublich hartnäckig, und du wirst nicht aufgeben, bis du es voll und ganz begreifst. Nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit deinem Herzen.

Und sobald du es vollkommen begriffen hast — wirst du vergeben. Die Wut wird sich lösen, und die Trauer wird sich setzen.

Du wirst erleben, dass du hier auf dieser Welt bist, um Raum einzunehmen – einen Raum, der für dich vorgesehen ist und niemandem seinen Raum wegnimmt.

Dieser Raum ist vorgegeben, um von deiner vollen Präsenz – inklusive Emotionen, Gedanken und deiner Energie – erfüllt zu werden.

Auch das wird in dir wieder Angst und Widerstand auslösen. Doch dieses Mal weißt du, dass auch das okay ist und erlebt werden darf.

Du wirst lernen, dich nicht nur selbst zu sehen und zu erleben, sondern diesen selbsterlebten Raum auch mit anderen zu teilen.

Du wirst lernen, aus dem Schneckenhaus der Selbsterkenntnis eine Bühne zu machen. Denn das, was du zu geben hast, ist von Bedeutung – und darf andere Menschen inspirieren.

So wie ein Baum, der stabil und kräftig in den Himmel wächst, Nährstoffe der Erde entnimmt, um zu wachsen, Platz einnimmt mit seinen ausgebreiteten Wurzeln – darfst du nun auch Schatten spenden, Früchte tragen und diese teilen.

Ja, Lisa, und so wie du diese Zeilen gerade schreibst, wird dieser Artikel die erste Frucht sein, die du wahrhaftig und von Herzen mit anderen teilen wirst.

P.S.: Der Befund des humangenetischen Labors ist vom 5.5.2020. Du wurdest am 5.5.1991 geboren. Du kannst dies als Zufall sehen – oder als Zeichen der Geburt deines wahren Selbst.

 

Die Diagnose war nicht das Ende – sie war der Anfang.

„Portrait der Autorin Lisa Krause – ein Moment der stillen Reflexion.“

Die Reise, die mit diesem Moment begann, war keine leichte. Aber sie führte mich zu mir selbst. Ich habe gelernt, dass echte Stärke nicht darin liegt, keine Angst zu zeigen, sondern ihr Raum zu geben. Dass Verletzlichkeit kein Makel, sondern eine Brücke ist. Vielleicht kennst du selbst Momente, in denen das Leben dich aus der Bahn wirft – vielleicht fühlst du dich sogar gerade mittendrin. Dann möchte ich dir sagen: Du bist nicht allein. Und manchmal beginnt genau dort, wo es am dunkelsten scheint, ein neues Licht.

Immer mit Mut,
Lisa

Lisa Krause

Lisa Krause is a German clinical psychologist (M.Sc.) and licensed psychotherapist, currently living in Oaxaca, Mexico. Her work is deeply shaped by lived experience: a rare genetic diagnosis and a history of complex, including sexual, trauma opened the door to her own healing—through mindfulness, somatic therapy, and the intentional use of psychedelics in therapeutic settings.

Today, she supports others on their path with presence, professionalism, and a deep trust in the body’s innate intelligence. Lisa holds space for what’s real—grief, old patterns, and the quiet unfolding of potential. She believes that difficult emotions are meant to be felt and understood, while joy and curiosity help us move forward. Her sessions go deep, yet remain infused with clarity, compassion, and a subtle sense of humor.

What sets her work apart is her ongoing commitment to her own inner growth. Many of her clients describe her as deeply impactful—because she lives the very practices she offers. On her blog Notes to Grow, Lisa writes candidly about healing, nature, and the ongoing courage it takes to keep showing up for oneself.

https://www.lisakrause.com
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