Wenn wir die Mutter in uns heilen – Ein persönlicher Weg durch Scham, Trauma und Heilung
Meine Mutter und ich, 1992
Was passiert, wenn wir plötzlich im Verhalten unserer Eltern uns selbst erkennen? Ein persönlicher Text über generationsübergreifende Schmerzspiralen, emotionale Muster, die Illusion von Hilflosigkeit – und die Kraft, die in der ehrlichen Selbstbegegnung liegt.
🕘 Lesezeit: ca. 15 Minuten
Wenn mein Partner Tillmann zu mir sagt:
„Mensch, Lisa, du bist genau wie deine Mutter“
, dann meint er damit nicht ihre Großzügigkeit, ihre Freundlichkeit, ihre Fürsorglichkeit oder ihren Humor. Er spricht über ihre Schattenseite.
Er meint eine Art und Weise, die mich selbst schon immer an ihr genervt hat. Und jetzt zu hören, dass ich genau so sein soll — das machte mich ziemlich wütend.
Ich erkläre es genauer:
Alle paar Wochen hat meine Mutter eine sogenannte „Opfer-Episode“. Sie erzählt mir in aller Präzision, wie sehr sie leidet, wie schrecklich alles ist. Und sie sagt es so überzeugend, mit so vielen Details und so viel Emotion, dass man fast beginnt zu glauben:
„Wow. Das ist wirklich schlimm. Ihre Lage scheint hoffnungslos und unlösbar zu sein. Da kann man nichts machen. Es ist aussichtslos.“
Und genau diesen Teil meint Tillmann – den Teil in ihr (und in mir), der sich vom Schmerz zu nähren scheint. Die Stimme, die Leid und Hilflosigkeit auf ein Podest stellt:
„Ich bin elend. Und ich kann nichts tun. Nichts …“
Wenn meine Mutter mich in diesem Zustand anruft oder mir schreibt, fühle ich, wie ich in einen Strudel gerate. Jeder Vorschlag – so liebevoll oder sanft er auch ist – jede Richtung hin zu einer Lösung, scheint es nur noch schlimmer zu machen. In Panik bringt sie dann ein weiteres, noch schlimmeres Thema auf – etwas, das aus meiner Sicht oft überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was sie vorher erwähnt hat.
Und ja, dann … weil ich ihr ja unbedingt helfen will — werde ich wütend.
Das merkt sie sofort und sie fühlt sich dann noch unverstandener. Und dann ist der Höhepunkt ihres Elends erreicht:
Sie leidet nicht nur in einer scheinbar ausweglosen Situation – jetzt leidet sie auch noch allein. Niemand versteht sie, und sie fühlt sich völlig isoliert in ihrem Schmerz.
Der Spiegelmoment: Wie mich meine beste Freundin wachrüttelte
Vor ein paar Wochen war ich bei meiner besten Freundin Birgit zu Besuch – und sie sagte etwas, das Tillmann mir schon seit Jahren mit seinem klassischen „Du bist genauso wie deine Mutter“-Ton sagen wollte. Aber Birgit kennt meine Mutter gar nicht. Sie hat keinen Vergleich gezogen, war nicht persönlich getriggert. Sie hat einfach ein Muster gespiegelt – und genau deshalb kam es … anders an.
Nach zwei Tagen, in denen ich mich fast durchgehend darüber beschwert hatte, wie müde und elend ich mich fühlte, sagte sie irgendwann:
„Lisa, es ist total okay, dich müde und elend zu fühlen. Aber mir den ganzen Tag zu erzählen, wie müde und elend du bist, bringt dich nicht weiter. Ich bin für dich da, ich verbringe diese Tage echt gerne mit dir, ganz entspannt … aber ich kann nichts an deinem Zustand ändern – das kannst nur du. Und was auch immer du brauchst, um mit diesem Elend umzugehen – ich mach das mit. Aber ich kann nicht einfach neben dir sitzen und dir zum hundertsten Mal zuhören, wie elend du dich fühlst, während du nichts unternimmst. Und auch keine Ratschläge annimmst.“
Ich fror ein. Für einen Moment rebellierte mein Kopf:
„Siehst du das nicht? Ich kann doch gar nichts machen – das eine, das andere, alles dazwischen. Ich bin einfach elend. Ich wünschte, ich könnte was ändern, aber ich kann nicht. Ich könnte dir tausend Gründe nennen warum gerade alles so scheiße ist – die Wahrheit ist: Ich bin einfach nur elend.“
Und dann meldete sich ein anderer Teil in mir:
„Ach, sie soll meine beste Freundin sein? Sie versteht mich gar nicht. Es fühlt sich an wie Verrat. Als wären alle gegen mich. Als würde mich niemand je wirklich sehen. Die Geschichte wiederholt sich. Immer wieder: Ich bin verdammt, hilflos zu sein. Verdammt, allein zu sein. Jetzt bin ich nicht nur elend – ich bin elend und allein.“
Ding – Ding – Ding.
Alle Alarmglocke klingelt.
Wahrheit im Anmarsch – und sie trifft mitten rein.
Und dann machte es klick:
Das bin ja ich.
Nicht nur sie.
Mein Muster. Mein Film.
Mamas Elend, mein Elend.
Volltreffer.
Erkennst du das Muster? Ich schon.
Und es hat mich erwischt – wie ein Schlag ins Gesicht.
Genau das, was ich all die Jahre an meiner Mutter verurteilt hatte … lebte ich in diesem Augenblick selbst.
Ich konnte mich von außen sehen, meine Visage, meine Körperhaltung — gefangen im Loop des Leids. Ich sah sprichwörtlich - meine Mutter in mir.
Vor Birgit verteidigte ich diesmal meinen Schmerz nicht.
Ich blieb still.
Ich hörte meinen Gedanken zu – wie sie versuchten, mich von allem zu trennen, was meinen Schmerz nicht vergöttert.
Ich schaute meine Freundin an – und sah Liebe in ihren Augen.
Sie sprach klar und deutlich. Aber da war irgendwie Wärme in ihrem Gesicht.
Ich atmete.
Und ließ ihre Worte noch einmal in mich hineinsinkend:
”Tu was.”
Wir saßen eine Weile schweigend im Auto.
Und als ihre Worte in meinem Kopf, meinem Herz und meinem Bauch ankamen – öffnete sich etwas. Es war, als würde ich auf den Beifahrersitz meines Geistes rutschen – und plötzlich sehen:
“Ich habe eine Wahl.”
Ich sah, wie ich diese Sackgasse (unbewusst) selbst erschaffen hatte,
indem ich glaubte:
„Ich bin elend, und ich kann nichts dagegen tun.“
Wenn ich das glaube, dann wird es wahr. Dann gibt’s auch wirklich keinen Ausweg. Dann finde ich nie Erleichterung.
Aber was, wenn ich diesen Gedanken umdrehe in:
„Ich fühle mich elend. Die Situation in der ich mich befinde ist scheiße, aber was könnte ich tun, um mich nur ein kleines bisschen besser zu fühlen?“
Das Erste, was ich zu meiner Freundin sagte, war:
“Danke.” — „Danke, dass du mir die Augen geöffnet hast. Danke, dass du geblieben bist. Danke, dass du dieses schwere Gespräch mit mir führst.“
Ich fühlte mich immer noch müde und elend – aber gleichzeitig zutiefst geliebt.
Ironischerweise – hätte ich auf meine Gedanken gehört, wäre ich zusätzlich zum Elend auch noch in dem Gefühl hängen geblieben, ungeliebt und allein zu sein.
Und genau das ist diesmal nicht passiert… und das war der erste Schritt in Richtung Veränderung.
Vom Opfer-Modus zur Erkenntnis: Die Spirale emotionaler Hilflosigkeit
Ein paar Wochen später schrieb ich mit meiner Mutter.
Sie war wieder im “Opfer-Modus”.
Gleiche Geschichte. Gleiches Elend. Gleiche Hoffnungslosigkeit.
Und ich ertappte mich bei dem genervten Gedanken:
„Verdammt, Mama. Du musst ja auch was tun.“
Und da war es.
Mir wurde klar – ja, das ist mein Muster.
Genau das, worauf Tillmann und Birgit die ganze Zeit schon hingewiesen haben.
Auch wenn mir die Wahrheit langsam bewusst wurde – ich war immer noch von ihr getriggert und wütend auf sie.
Sie klammerte sich an ihren Schmerz, als wäre es das Letzte, was von ihr übrig war. Und wieder hangelte sie sich von einem Grund zum nächsten, warum sie nichts tun kann. Sie blieb in ihrem Leid stecken – ohne sich auch nur einmal zu fragen:
„Was könnte ich tun, um mich nur ein kleines bisschen besser zu fühlen?“
Später wurde mir klar:
Es ging ihr nie wirklich darum, sich besser zu fühlen.
Es ging darum, genau da zu bleiben, wo sie war – und gesehen zu werden.
Obwohl wir nur geschrieben haben, konnte ich ihre Überforderung körperlich spüren. Ich wollte ihr Raum geben – für ihren Schmerz, ihre Angst, ihre Trauer, für das, was da unten drunter lag. Ich bot Trost an. Ich bot Lösungen an.
Und natürlich – in dem Moment, in dem ich wagte, etwas in Richtung konkrete Handlung vorzuschlagen – egal in welche Richtung – machte sie dicht.
Sie schrieb mir, dass sie nicht mehr mit mir darüber reden will. Und stürzte sich kopfüber in ihre Einsamkeit.
Ganz ehrlich? Ich kann ihr das nicht Übel nehmen. Denn das ist mein persönlicher Klassiker im Drama-Repertoire.
Kindheitsprägungen verstehen: Wie frühe Erfahrungen Glaubenssätze formen
Mir wurde klar:
Was sie tut, denkt und fühlt, ergibt oberflächlich gesehen — keinen Sinn – außer man guckt genauer hin und versteht, woher es kommt.
Für den verletzten “Überlebens-Anteil” in ihr – den Kern-Glaubenssatz, den Motor dieses Musters – ergibt es total viel Sinn so zu denken und sich so zu verhalten.
Dieser Glaubensatz: „Ich bin hilflos und allein“, wurde in ihrer (und meiner) frühen Kindheit programmiert, als automatische Reaktion auf eine unerträgliche Außenwelt.
Der Grund, warum das heute so übertrieben wirkt ist, dass die äußeren Umstände sich längst verändert haben. Aber der innere Glaubenssatz – „Ich bin hilflos und allein“ – der ist geblieben.
Und anders als damals – heute können wir handeln.
Von außen ist es leicht zu denken: „Was ist denn das Problem? Man kann erkennen, dass es eine schwierige Situation ist, aber längst nicht aussichtslos. Das es Möglichkeiten gibt — ist der Schritt noch so klein.“
Aber wenn du tief drinsteckst in dem Glauben, dass du hilflos bist, siehst du das nicht. Nicht, bevor sich der Glaubenssatz anfängt zu verschieben. Nicht, bevor du überhaupt begreifst, dass es möglich ist, etwas anderes zu glauben.
Der Ursprung von emotionaler Ohnmacht: frühe Prägungen verstehen
Bevor wir tiefer in die Vergangenheit meiner Mutter eintauchen – und schauen, was in ihrer Kindheit passiert ist, oder eben nicht passiert ist, dort, wo dieses Muster entstanden ist – möchte ich einen Moment rauszoomen. Einen Schritt zurücktreten, und einen allgemeineren Blick darauf werfen, wie so ein Glaubenssatz überhaupt entsteht.
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Es geht hier nicht darum, jemanden die Schuld zu geben.
Selbst wenn wir es wollten – es wäre sinnlos. Am Ende würden wir Mutter um Mutter die Schuld geben, immer weiter zurück, bis wir irgendwann Gott die Verantwortung geben müssten für die Erschaffung so fehlerhafter, überforderter Wesen.
Aber genau das ist nicht der Weg, den wir hier gehen. Das ist eine Sackgasse – destruktiv, lähmend und keinem wirklich dienlich.
Worum es hier wirklich geht?
Neugier.
Wir fragen mit Sanftheit und Mitgefühl: Was ist passiert?
Damit wir annehmen können, was angenommen werden will – und anfangen, das zu verändern, was veränderbar ist.
Babys nehmen die emotionale Welt ihrer Mütter lange vor der Geburt wahr. Die Wissenschaft sagt: Das Nervensystem der Mutter ist ihre erste Umgebung.
Was sie fühlt, fühlen sie — nicht nur im Mutterleib sonder auch noch Monate nach der Geburt sind Säugling und Mutter mit ihren Nervensystemen verbunden.
Wenn eine Mutter überfordert ist, taub oder stark von sich selbst abgeschnitten, dann fehlt dem Baby nicht nur emotionale Zuwendung – es nimmt genau diese Abgeschnittenheit in sich auf.
Da hat es für meine Mutter begonnen. Nicht erst, als sie zur Großmutter gegeben wurde. Früher. Im Mutterleib.
Geformt durch Traurigkeit und Abschaltung. Lange bevor sie ihren ersten Atemzug gemacht hat.
So wurzelt sich dieses Trauma. Nicht durch ein einzelnes Ereignis, sondern durch ein Nervensystem, das sich von Beginn nie sicher angefühlt hat.
Ich begann zu begreifen: All der Schmerz, den ich erwähnt habe – meine Mutter hat ihn nie wirklich begriffen. Nie wirklich verarbeitet. Nie wirklich betrauert.
Er sitzt tief. Er ist verzweifelt. Und unendlich traurig.
Vieles davon wurde vielleicht so früh, so fest eingeschlossen, dass kein normales Gespräch je dort hinkommt. Un deswegen zeigt er sich immer wieder in dieser Intensität und aussichtslosigkeit — weil er endlich gesehen werden will.
Schauen wir uns mal den Kern dieser Sache an: Das Gefühl, in Momenten von Schmerz oder Überforderung komplett machtlos zu sein.
Emotional überrollt. Wie gelähmt. Orientierungslos. Handlungsunfähig.
Gepaart mit Gedanken, wie:
„Es ist alles zu viel, Ich schaffe das nicht. Ich kann nichts tun.“
Diese Art der inneren Starre – dieses „Ich kann nichts machen“-Gefühl – führt mich zu der Annahme, dass es aus ganz frühen Erfahrungen stammen muss.
Als Säuglinge, wenn wir Schmerzen haben, sind wir buchstäblich machtlos. Alles, was wir tun können, ist weinen und schreien– in der Hoffnung, dass jemand es merkt und sich kümmert.
Wir sind vollkommen auf Bezugspersonen angewiesen: dass sie uns sehen und reagieren. Dass sie uns füttern, sauber machen und auch emotional regulieren.
Kurz gesagt: Wir brauchen andere, um zu überleben.
Im Fall meiner Mutter gehe ich davon aus, dass ihre körperlichen Bedürfnisse gedeckt wurden – aber emotional wurde sie nicht “artgerecht” umsorgt.
Ihre Mutter – also meine Großmutter – war schon vor, während und nach der Schwangerschaft depressiv und überfordert.
Ein Jahr nach der Geburt wurde meine Mutter dann an ihre Großmutter übergeben – weil ihre Mutter sich mit dem zweiten Kind nicht mehr in der Lage fühlte, die Verantwortung für meine Mutter zu übernehmen.
Babys nehmen die emotionale Welt ihrer Mutter lange vor der Geburt wahr.
Die Wissenschaft sagt: Das Nervensystem der Mutter ist ihre erste Umgebung.
Was sie fühlt, fühlen sie.
Wenn eine Mutter also überfordert, taub oder stark von sich selbst abgeschnitten ist – dann fehlt dem Baby nicht nur emotionale Zuwendung.
Das Baby nimmt genau diese Abgeschnittenheit in sich auf.
Da begann es für meine Mutter – nicht erst, als sie zur Großmutter gegeben wurde. Früher. Im Mutterleib. Geformt durch Traurigkeit und Unverbundenheit..
Lange bevor sie ihren ersten Atemzug gemacht hat.
So entsteht Trauma. Nicht durch ein einzelnes Ereignis –
sondern durch ein Nervensystem, das sich nie sicher (in Verbundenheit) gefühlt hat.
Ich begann zu erkennen: All der Schmerz, von dem ich erzählt habe –
meine Mutter hat ihn nie wirklich verstanden, nie wirklich verarbeitet oder betrauert.
Er sitzt tief.
Er ist verzweifelt.
Und unendlich traurig.
So vieles davon wurde vielleicht so früh, so fest eingeschlossen,
dass kein normales Gespräch je dorthin reichen kann.
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Es erinnert mich an eine LSD-Therapiesitzung mit hoher Dosis, die ich einmal gemacht habe – als ich herausfinden wollte, was mich eigentlich davon abhält, ganz in meine Kraft zu kommen.
Recht kurz nach dem Beginn der Wirkung, ca. 20 Minuten später — fing ich an zu weinen — und das ging stundenlang so weiter. Es waren die größten, schwersten Tränen, die ich je geweint habe. So viele Tränen.
Und trotzdem … keine Erleichterung. Es war wie ein Strudel in die unendliche Trauer und Verletztheit.
Irgendwann während der Reise wurde ich ungeduldig. Wütend.
„Wann hört das endlich auf? Wann fühle ich mich endlich besser?“
Ich biss die Zähne zusammen, riss mich innerlich zusammen und zwang mich, mit dem Weinen aufzuhören. (Hätte ich in dem Moment eine:n Therapeut:in dabeigehabt, hätte er oder sie mich wahrscheinlich begleiten und lenken können – aber vielleicht war es genau richtig so. So habe ich meine eigene Erfahrung mit dem Widerstand gemacht. Und später reflektiert.)
Diese Spannung zog sich durch den Rest der Reise. Alles wurde eng und anstrengend. Die Sitzung endete damit, dass ich allein vor dem Kamin saß und mich fragte:
„Was war das heute? Warum war das so schwer? Was gibt es zu lernen?“
Ich schaute ins Feuer – ruhig, offen, ergeben – und es war, als würde etwas außerhalb von mir zu mir sprechen:
„Lisa, du hast noch nicht genug geweint. Du wolltest wissen, was dich blockiert? Dein Widerstand, alles zu fühlen.“
Ich antwortete still:
„Aber ich kann gar nicht mehr weinen. Ich habe schon so viel geweint. Ich will einfach nur, dass es endlich besser wird.“
Und die Stimme sagte, sanft, aber bestimmt:
„Ich weiß. Genau das ist das Problem.“Die Botschaft war glasklar:
Der Schmerz war noch größer, als ich gedacht hatte.
Und obwohl ich schon so viel getan hatte –
mir mit dem „Fühlen“ schon so viel Mühe gegeben hatte –
war er noch immer nicht wirklich gesehen worden.Ich sollte ihn fühlen, um ihn zu fühlen.
Nicht fühlen,
um ihn wegzumachen.Der Schmerz war nicht vollständig gefühlt.
Nicht vollständig geehrt.
Nicht vollständig akzeptiert.Jede Form von „Er ist zu viel – ich will ihn weg haben“ ist Widerstand.
Und genau dieser Widerstand, weiterzufühlen, blockierte den Prozess:
→ die Ausdehnung.
→ die Annahme.
→ die Veränderung.(Die ganze Geschichte der ganzen Reise – hebe ich mir für einen anderen Blogbeitrag auf.)
Hilflosigkeit durchbrechen — Veränderung beginnt, wenn wir unsere alten Muster erkennen
Ganz einfach gesagt:
Wenn ein erwachsener Mensch emotional in einem Muster festhängt, das aus der Wahrnehmung und Bewältigungskapazität eines Säuglings stammt, dann fühlt sich diese Hilflosigkeit genauso real an wie damals.
Und genau da beginnt Veränderung – mit Bewusstsein. Mit dem einfachen Erkennen — ohne Wertung oder Veränderungswunsch: Ich bin gerade in einem Zustand, der sich anfühlt wie damals – als Baby.
Dieses Erkennen schafft Raum. Wir erschaffen damit Distanz – statt im Gefühl unterzugehen, beginnen wir, es zu beobachten.
Wir wechseln von der Hauptrolle im Drama zur Zuschauer:in in der ersten Reihe. Mit ein bisschen mehr Abstand und einer großen Portion Mitgefühl.
Von dort aus kann man anfangen, sich selbst etwas zuzuflüstern:
„Hey, ich sehe dich.
Was du fühlst, ist echt – und es tut weh.
Aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Du bist nicht hilflos.
Du kannst kleine, wackelige Schritte in eine neue Richtung machen.
Auch wenn du das Ziel noch nicht sehen kannst –
ein kleiner Schritt nach dem anderen reicht.“
Ja – durch diesen Nebel zu gehen ist schwer.
Aber weißt du, was noch schwerer ist? Drin zu bleiben.
Sich die gleiche Geschichte immer wieder zu erzählen –
und sie am Ende „dein Leben“ zu nennen.
Gesehen werden um jeden Preis: Wenn Trauma nach Aufmerksamkeit schreit
Ich glaube nicht, dass wir einfach nur „traumatisiert“ und damit als krank gelten. Ich glaube, unsere Traumastrategien haben einen Sinn.
Von außen wirken sie absurd.
Übertrieben.
Selbstzerstörerisch.
Aber genau das ist oft das deutlichste Zeichen:
Das Trauma am Werk ist.
In unserem Fall - also bei mir und meiner Mutter - ergibt das Verhalten total Sinn, wenn man es mit der Brille der frühen Kindheit anschaut:
Ein Säugling hat nur eine einzige Möglichkeit, um seine Bedürfnisse zu äußern: Weinen. Und je lauter und intensiver das Weinen, desto höher die Chance, dass jemand reagiert.
Und ganz ehrlich – das gilt für mich bis heute.
Wenn ich getriggert bin und in diesen Zustand rutsche, fühlt es sich exakt so an:
Da ist dieser Schmerz in mir, der schreit:
„Sieh mich. Lieb mich. Halt mich. Verehre mich.“
Gesehen werden – wirklich gesehen – ist eines meiner tiefsten, unerfüllten Bedürfnisse.
Also beschwere ich mich. Ich jammere. Nicht immer laut, aber auf eine Weise, die insgeheim hofft, dass jemand es hört. Und mich rettet.
Und ich mache weiter – bis ich zusammenbreche..
Ein kompletter mentaler und körperlicher Breakdown. Danach folgt eine Welle von Scham. Körperliche Lähmung. Innerliches Abschalten.
Ich liege ein paar Tage im Bett und versuche mich daran zu erinnern, wie man wieder okay wird.
Und wenn ich mich gerade so wieder halbwegs zusammengerafftt habe, sage ich mir:
„Nie wieder zeige ich jemandem meinen Schmerz. Nie wieder zeige ich mich verletzlich. Ab jetzt regle ich alles allein.“
Aber statt mich dem Schmerz zuzuwenden und meine Bedürfnisse wirklich zu fühlen, mache ich einen riesigen Bogen darum.
Die Wut und Frustration, die ich dann habe weil mich keiner gerettet hat — setzen eine Energie in Gang – eine scharfe, reaktive Kraft – und ich springe direkt in den Overdrive.
Was dann kommt, sind Tage voller Produktivität, Motivation, ein unermüdlicher Drang nach etwas Großem – nach einem Beweis im Außen: dass ich nicht schwach bin, dass ich alles überwunden habe, dass ich es wert bin, gesehen zu werden.
Heute weiß ich, dass dieser Modus zum Scheitern verurteilt ist. Ich überarbeite mich. Gehe über jedes Limit. Setze mir unrealistische Maßstäbe. Vergleiche mich mit Menschen, die Lichtjahre von mir entfernt sind – Menschen, mit denen ich nie hätte konkurrieren müssen.
Und dann stürze ich ab.
Es endet mit einer Migräne. Oder in Taubheit. Oder in einer depressiven Episode.
Und dann beginnt die nächste Runde:
das Jammern, der Rückzug, die Erschöpfung, die Scham.
Die Sehnsucht aus diesem Elend heraus gerettet zu werden, weil ich mich schon wieder verausgabt und versagt habe.
Und so dreht sich die Spirale. Immer und immer wieder.
(Insert illustration: Die Schleife)
Schmerz → Überforderung → Isolation → Pseudo-Kraft → Burnout → Zusammenbruch → Schmerz
Scham als Schwelle: Warum wahre Stärke erst durch Annahme entsteht
Die meiste Zeit meines Lebens war ich genau in diesem Kreislauf gefangen.
Ich wollte beeindrucken. Auffallen. Besonders sein.
Und wenn das nicht geklappt hat, habe ich mich auf andere Weise bemerkbar gemacht – laut, dramatisch, fordernd. In der Hoffnung, dass jemand hinschaut und sagt:
„Wow. Du arme. Die geht es aber schlecht.
Du hast so viel Schmerz in dir. Und trotzdem machst du weiter.
Du bist so stark, dass du das alles durchstehst.“
Während ich das schreibe, kriecht die Scham über meine Haut. Und mein Verstand ruft:
„Das darfst du nicht zugeben. Und schon gar nicht im Internet veröffentlichen.“
Tja. Sieht ganz so aus, als wären wir jetzt im Endgegner-Level der Traumaarbeit angekommen - beim Scham.
Scham ist nämlich ziemlich normal, wenn man eine tiefe Wahrheit berührt.
Sie ist kein Feind.
Sie ist ein Signal.
Sie zeigt uns, wo unser eigentliches Potenzial liegt.
Und wenn die schambesetzten Teile endlich angenommen und integriert sind, dann wird eine neue Kraft frei. Still. Beständig. Eindeutig.
Das große Finale — Die Entscheidung zur Freiheit: Verantwortung statt Rettungsfantasie
Ob sich der Kreislauf bei meiner Mutter auchso abspielt, weiß ich nicht, warschnelich emotional so ähnlich doch mit einer anderen Geschichte.
Jedoch, habe ich beschlossen, den alten Weg nicht mehr zu wählen –
diesen ausgetretenen Pfad aus Elend, Drama und Ohnmacht.
Stattdessen gehe ich jetzt einen anderen Weg:
Ich lasse den schmerzhaften Wunsch los, gesehen und endlich gerettet zu werden.
Ich habe akzeptiert, dass ich nicht gerettet wurde. Dass sich niemand so um mich gekümmert hat, wie ich es gebraucht hätte.
Nicht ich.
Nicht meine Mutter.
Nicht ihre Mutter.
Nicht die Mütter davor.
Und auch das habe ich angenommen.
Heute sehe ich klar:
Weder ich noch eine Mutter müssen heute gerettet werden.
Wir sind erwachsene Frauen. Keine Babies mehr.
Wir haben es bis hierher geschafft.
Und ich können jetzt lernen, gut für uns zu sorgen.
Es ist nicht zu spät.
Mit einem distanzierten, offen und neugierigen Blick sehe ich:
Das Leben ist voller Möglichkeiten.
Ich erkenne, dass ich diese Kraft in mir habe.
Ein kleiner Schritt nach dem anderen wird mich weitertragen. Und irgendwann werde ich zurückblicken und sehen: Ich bin diesen Berg allein hinaufgestiegen.
Ja – mit Blasen, Frust und Erschöpfung. Aber ich habe es geschafft. Weil ich weitergegangen bin und daran geglaubt habe.
Ich musste nicht gerettet werden. Und ich musste auch nicht von irgendwem nach oben getragen werden. Nein, ich musste den Weg sogar alleine gehen, um genau das zu begreifen.
Und das ist die Haltung, mit der ich mir nun jeden Tag neu begegnen will.
Und in den Momenten, in denen ich noch nicht weiß, was ich annehmen darf und was ich verändern soll — möchte ich mir genug Freundlichkeit schenken – und genug Großzügigkeit – um mir Zeit und Raum zu geben, es herauszufinden.
Und wenn mein Partner Tillmann heute sagt – in seinem typischen, leicht nörgeligen Ton: „Du bist genauso wie deine Mutter“, dann werde ich nicht mehr wütend.
Denn ich kann jetzt sagen: „Ja. Stimmt. Danke für die Erinnerung.“
Und von da aus kann ich zurück in die Bewusstheit gehen. Mich an meine Verantwortung erinnern:
Mich zu befreien –und all die Frauen vor mir –aus dem Glauben, dass wir hilflos und allein in dieser Welt sind.
Ich kann anerkennen, dass ich immer noch Schmerz in mir trage, den ich nicht ganz gefühlt habe.
Und vielleicht ist dieser Schmerz nicht nur meiner. Vielleicht gehört er auch den Frauen vor mir, dessen Schmerz nie wirklich gesehen wurde.
Und ich bin bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Bereit, unseren Schmerz voll und ganz zu fühlen. Und Mich darum zu kümmern.
Ich werde von nun an in die Rolle hineinwachsen, nach der meine Mutter, ihre Mutter und mein eigenes inneres Baby sich so sehr gesehnt haben.
Und wenn ich vom Weg abkomme, werde ich mich sanft zurückholen – in bewusstes, mitfühlendes Handeln. Auch wenn es nur ein winziger Schritt ist.
Ich bin bereit, für mehr Sicherheit zu sorgen – in meinem Leben,
in meinem Umfeld, und vor allem in meiner Beziehung zu mir selbst –damit der Schmerz mir vertrauen kann. Damit er sich mir voll und ganz zeigt und versteht dass er von nun an willkommen ist.
Und ich vertraue darauf, dass sich dann vieles von selbst sortiert. Dass das Potenzial, das meine liebsten Menschen längst in mir sehen, sich zu entfalten beginnt.
Ganz von allein.
Ohne Zwang. Ohne Druck. Ohne Willenskraft.
Einfach als sanftes, natürliches Loslassen von Energie, die viel zu lange festgehalten wurde.
Und das, was dann aufsteigt – wird nicht nur mein Potenzial sein.
Es gehört all den Frauen, die vor mir kamen.
Denjenigen, die immer noch darauf warten, zu leuchten.
Es ist wie ein Fluss, der von einem Damm zurückgehalten wurde – und wenn sich der Damm (Widerstand) löst, fließt das Wasser: Frei. Kraftvoll. Unaufhaltsam.
Und das gilt nicht nur für mich und mein Potenzial.
Es gilt auch für dich und dein Potenzial.
Es gilt für uns alle.
Meine Geschichte klingt vielleicht anders als deine – aber ich wette, auch in dir gibt es so einen Damm.
Einen Fluss voller Potenzial, der nur darauf wartet, sich zu zeigen.
Der drängt.
Der frei sein will.
Am Ende läuft alles auf eine einzige, mutige Entscheidung hinaus:
Wir müssen handeln.
Wir müssen aktiv die Freiheit wählen – statt den Schmerz.
Da beginnt das Leben sich zu entfalten – und sich zu verändern.
Auf eine Weise, die sich endlich voll anfühlt. Wahrhaftig. Und im Einklang mit dem, wer wir wirklich sind.
Ja, das will ich von nun an glauben.
Immer mit Mut,
Lisa
Lisa und ihre Mutter, Sommer 1991, Gelsenkirchen
Meine Mutter – Eine Frau, die zum ersten Mal lebt —genau wie ich.
Meine Mutter und ich teilen eine seltene und kostbare Verbindung.
Trotz all unserer Unterschiede gibt es zwischen uns eine tiefe Verbundenheit – gewebt aus Ehrlichkeit, Mut und Liebe. Im Laufe der Jahre haben wir viele verletzliche Gespräche geführt: über ihre Kindheit, wie sie sie geprägt hat, und wie sich das wiederum auf mich ausgewirkt hat.Ich kann immer mehr meine kindlichen Erwartungen an sie loslassen, die unerfüllten Bedürfnisse verzeihen – und sehe sie immer klarer als die Frau, die sie ist und dem Lebensweg, auf dem sie sich befindet.
Ich sehe in ihr das Kind, das sie war. Die Jugendliche, die rebelliert und großes vor hat. Die reife Frau, die sie heute ist – die sich immer wieder für das Laben entshceidet, und ich sehe die Weise Frau, die sie noch wird.
All das kann ich gleichzeitig spüren, wenn ich heute mit ihr bin.Früher sehnte ich mich nach einer göttlichen Mutter – einer, die all meine Bedürfnisse erfüllt, mich liebt, sich sorgt und mich in meinem Schmerz hält.
Doch diese Sehnsucht ist vorbei.
Ich habe gelernt, diese Sehnsucht selbst zu stillen – und erlebe heute eine echte, lebendige Beziehung mit einer Mutter, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte.Ich sehe eine Frau, die zum ersten Mal lebt — Genau wie ich.
Ist das nicht wunderschön?